Maria André berichtet über die eigene Flucht vor den Russen aus Jägerndorf am 18. März 1945 und die wilde Vertreibung durch Tschechen am 22. Juni 1945. Sie gibt dabei auch Erlebnisse ihrer Eltern wider, die nach der Vertreibungen an den langen Abenden nach der Stromsperrung regelmäßig durchgesprochen wurden.

Ich wurde 1937 in Jägerndorf geboren und komme aus einer Großfamilie. Ich war das 10. Kind von 12 Kindern, wovon zwei im Kleinkindalter starben. Mein Vater war selbstständig als Möbellackierermeister und Schriftenmaler. 

(Einfügung der Heimatlandschaftsseite: Portal der Jubiläumsschule in Jägerndorf 2021)


1945 war ich in der zweiten Klasse in der Jubiläumsschule und immer wieder nahm ich auf dem Heimweg von der Schule, so manche Besonderheiten wahr. Das war immer in der Türmitzer Straße in Jägerndorf. 

Mehrere Male begegnete ich Pferdefuhrwerk-Trecks im Winter. Es war bitter kalt und es lag viel Schnee. Die Menschen saßen vermummt auf ihren Wagen und froren. Dann wieder begegnete ich gefangenen Soldaten in zerlumpten Schuhen, schwer bewacht. Eine Frau wollte Brötchen verteilen, sie wurde verjagt. Ein anderes Mal ging vor mir ein Mann, der einen gelben Stern auf dem Mantelrücken trug. Dann wieder hörte ich fernes Geschützgrollen und sah Bomben vom Himmel fallen. Ein Trauerzug kam mir entgegen, der Sohn, ein junger Soldat, war gefallen. Das alles beobachtete ich, aber ich verstand nichts. Kam ich zu meiner Mutter nach Hause, war für mich alles wieder gut, und ich fühlte mich geborgen.

Meine Mutter wurde von Herrn Fitzke, Ziegelei, zum letzten Mal aufgefordert, Jägerndorf am 18. März 1945 zu verlassen. Die Russen standen am 17. März 1945 bereits 15 km vor Jägerndorf in Leobschütz, was wir allerdings nicht wussten. Meine Mutter lud viel Gepäck auf einen Wagen und marschierte mit uns sieben Kindern 22 km nach Freudenthal. Das jüngste Kind war ein Jahr und vier Monate alt und die Zweitjüngste drei Jahre und drei Monate. Ich war sieben dreiviertel Jahre alt. Wir wohnten einige Wochen bei Verwandten, äußerst beengt. 

Als 50 m entfernt ein Geschoss der russischen Stalinorgel einschlug und ein Haus traf, wurden wir danach auf Lastautos verladen und fuhren Richtung Lichtewerden, Engelsberg, Klein Mohrau. Da wurden wir ausgeladen und waren uns selbst überlassen. Wir gingen über Karlsbrunn, Gabelkreuz zum Roten Berg. Unterwegs übernachteten wir fast immer im Wald. 

Was wir auf dem Roten Berg erlebten, kann man kaum in Worte fassen. Ein katastrophales Durcheinander auf der Straße, Menschenmassen, Pferdefuhrwerke, Wehrmachtsfahrzeuge, tote Pferde auf der Straße, Zigeuner, die um ihr Leben rannten, die Straße total verstopft. Die einen wollten bergauf, die anderen bergab. 

Eine Frau schloss sich uns an. Meine dreijährige Schwester saß auf dem Wagen dieser Frau. Meine zwei Schwestern, 12 und 13 Jahre alt, zogen diesen Wagen. Diese Frau ging mit meinen drei Schwestern weiter, als meine Mutter an ihrem eigenen kleinen Leiterwagen einen Achsenbruch reparierte. Als wir weiter gehen konnten, fehlten unsere drei Schwestern. Wo sollten wir sie suchen? Wir gingen Richtung nächstes Dorf. 

Ein Wehrmachtsbus kam halb im Graben gefahren, windschief uns entgegen. Vorne an der Scheibe stand meine 13-jährige Schwester, wir freuten uns riesig, aber sie war allein. Sie wollte mit der Frau nicht weiter gehen und setzte sich ab, um uns zu suchen. Wir trafen sie, welch ein Wunder. Wir kamen nach endloser Zeit ins Dorf, gingen in ein großes Haus, in dem schon viele Flüchtlinge waren. 

Meine Mutter borgte sich eine Stall-Laterne und suchte jedes Haus im Dorf ab. Sie fand die beiden Kinder nicht. Es war inzwischen Mitternacht. Meine Mutter konnte nicht schlafen und saß auf einem Stuhl. Plötzlich steckte diese Frau den Kopf zur Tür herein. Meine Mutter sprang auf und das einzige was sie sagen konnte war: „Wo sind meine Kinder?“ Sie schliefen im gleichen Haus in dem wir uns befanden, nur ein Stockwerk höher. In diesem Haus suchte meine Mutter nicht. Ungeheure Belastungen, psychischer und physischer Art, lassen solche Fehlentscheidungen zu. Das ist die einzige Erklärung. 

Voller Glück, dass wieder alle sieben Kinder zusammen waren, 3 Brüder und Vater waren ja eingezogen, verließen wir am frühen Morgen in der Dämmerung das Haus und gingen in den Wald. Ich erinnere mich sehr genau daran. Ich wollte noch schlafen, weil ich so entsetzlich müde war und draußen zitterten wir vor Kälte.

Meine Mutter besaß den sechsten Sinn. Sie fühlte herannahende Gefahren, außerdem betete sie viel. Wie sich später herausstellte, kamen an diesem Tag die Russen in dieses Dorf. Sie hausten fürchterlich unter den Frauen. Nach weiterem Umherirren erreichten uns die Russen vor Josephstadt. Den ersten Kontakt mit Russen hatten wir im Wald. Es war ein leichter Abhang. Einige Meter von uns entfernt, versteckte sich noch eine Familie. Sie hatten unter anderem auch eine Tochter, ungefähr im Alter meiner 19-jährigen Schwester. Wir hatten nichts zu essen. Die Mädchen entdeckten weiter oben einen Waldweg. Sie beschlossen, mit Zustimmung beider Familien, zu schauen, ob der Weg eventuell zu einem Haus führt. So war es. Der Weg führte zu Feldern und hinter den Feldern stand ein Bauernhaus. Als sie schon eine Zeit lang weg waren, hörten wir auf dem Waldweg Pferdetritte. Wir erschraken fürchterlich. Es waren Russen. Sie sahen uns und stiegen von ihren Pferden und kamen zu uns. Zuerst durchsuchten sie unsere Habseligkeiten. Sie warfen alles auf den Boden. Sie suchten nach Uhren. Wir hatten nichts mehr. Irgendwo warf meine Mutter das letzte Stück, das goldene Mutterkreuz weg. Gepäckstücke versteckten wir auf der Flucht in Hecken, weil sie uns zu schwer wurden. Auf dem Rückweg fanden wir die leeren Koffer. Als Dankeschön hinterließen sie Fäkalien. Meiner Mutter mit uns sechs total verängstigten Kindern, geschah nichts. Die Russen gingen wieder zu ihren Pferden, markierten aber mit krummen Messern die Stelle an Bäumen und ritten davon. Wir waren in Todesangst um die zwei Mädchen. Wir wussten, wenn sie den Russen in die Hände fallen, werden wir sie nie wieder sehen. Sie ritten genau in die Richtung, in die die Mädchen gegangen waren. Irgendwann kamen die Russen zurück, ließen uns aber in Ruhe und ritten weiter, woher sie zuvor gekommen waren. Wir waren in allergrößter Sorge um die zwei Mädchen. Wo sind sie? Leben sie noch? Inzwischen war beängstigende Stille eingekehrt. Nach einiger Zeit hörten wir ein Geräusch, es waren die beiden Mädchen. 

Folgendes hatte sich zugetragen: 

Der Weg führte aus dem Wald zu Feldern und einem Bauernhaus. Sie gingen dorthin. Als sie mit dem Bauer sprachen, behielt er das Fenster im Auge und sah russische Reiter auf den Bauernhof zukommen. Er versteckte die beiden Mädchen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern. Die Russen wollten Frauen, fanden aber keine. Sie bestellten für den Abend für 50 Soldaten Abendessen auf dem Bauernhof. Woher der Bauer die Nahrungsmittel nehmen sollte, danach fragten sie nicht. Sie ritten den Weg wieder zurück. Nach einiger Zeit machten sich die beiden Mädchen auf den Weg zu uns, in der Hoffnung, keinem Russen zu begegnen. Und so geschah es. Das war ein weiteres Wunder. 

Sie kamen wohlbehalten an. Inzwischen war es dämmrig geworden. An dieser von Russen markierten Stelle wollten wir nicht bleiben. Aber wohin in der Dunkelheit? Meine Mutter beschloss, zwar im Wald zu bleiben, aber an einer anderen Stelle. Wir hörten das Pferdegetrampel, als die Russen abends zum Bauernhof ritten. Wir hörten sie auch zurückkommen. Sie ritten an uns vorbei. 

Bevor wir weiter zogen, besuchten wir den Bauer, um Dank zu sagen. Er erzählte, nachdem die Russen gegessen und viel Alkohol getrunken hatten, suchten sie nach Frauen. Sie fanden seine Frau und beide Töchter, obwohl er sie gut versteckt hatte. 


Als wir am folgenden Morgen den Wald verließen, mussten wir einen Bach überqueren. Wir waren müde, hungrig und froren. Meine neunzehnjährige Schwester nahm meinen neunjährigen Bruder auf der einen Seite und mich auf der anderen Seite unter den Arm, so wollte sie uns trocken durch den Bach bringen. Aber sie rutschte auf einem glatten Stein aus und wir fielen alle drei ins kalte Wasser. Das war ein Schock. Wir hatten keine Kleider zum Wechseln. 

Meine Schwester verletzte sich einen Knöchel sehr schwer. Vermutlich angebrochen. Er schwoll sofort an und das Bein wurde dick und rot. Sie hatte große Schmerzen und wir hatten kein Schmerzmittel. Allein konnte sie nicht mehr laufen. So stützte sie sich abwechselnd auf unsere Schultern. 

Die kleinen Geschwister mit eineinhalb und dreieinhalb Jahren mussten auch getragen werden. Es war schlichtweg eine Tragödie. 

Auf der Straße trafen wir deutsche, bewaffnete Soldaten und Flüchtlinge. Plötzlich tauchten Russen auf. Sie entwaffneten die Soldaten und erschossen sie sofort. Wir versuchten uns irgendwo zu verstecken. Nachdem die Russen Jägerndorf am 6. Mai 1945 eingenommen hatten und sie überall auftauchten, beschloss meine Mutter, wieder nach Jägerndorf zu gehen. Während der ganzen Flucht hin und zurück, schliefen wir meistens im Wald, bis auf wenige Ausnahmen. Meine Mutter legte eine Decke auf den Waldboden, wir setzten uns in einen Kreis und legten eine Decke über alle Köpfe. So versuchten wir die Nächte zu überstehen. Nahrung suchten wir in verlassenen Häusern. Nach 4 Wochen Umherirrens waren wir wieder in Jägerndorf. Wir gehörten zu den ersten Rückkehrern. Zwischen dem Burgbergbahnhof und der Goldoppa-Brücke war ein tschechisch-russischer Kontrollposten stationiert. Wir hatten wieder panische Angst. Meine Mutter wurde aufgefordert, sich in der Stadt registrieren zu lassen. Sie durfte uns aber zuerst in die Wohnung bringen. Wir krochen über die gesprengte Goldoppa-Brücke, die im Fluss lag und kamen nach einer Viertelstunde in unser Reihenhaus. Alle Fenster und die Haustüre waren mit Brettern vernagelt. 

Alles war ausgeräumt und große Hochzeitsbilder im Rahmen von meinen Eltern waren von vielen Kugeln durchschossen. Es war trostlos. Es gab keine Läden, kein Licht und die Russen waren unberechenbar. Angst und Hunger waren Tag und Nacht ständige Begleiter. 

Während wir uns in den Räumen umsahen und wieder im Flur standen, ging plötzlich im ersten Stock unter dem Dach eine Tür auf. Wir erwarteten Russen. Es war mein 16-jähriger Bruder, der noch in den letzten Monaten zur Flak eingezogen wurde und nun wieder zurückgekommen war. Ebenso war auch mein Vater zurückgekommen. 

Es war fast unwirklich, dass wir uns bis auf zwei Brüder, die Soldaten waren, wieder gefunden hatten. Ein Wunder. 

Vater ging auf Essenssuche. Er brachte aus einem Haus einen Eimer geschrotetes Getreide. Das war unsere Lebensrettung. In unserer Wohnung lebten wir in blanker Angst. Jeden Augenblick konnten Russen kommen. Wir hatten ja keine Rechte. 

Meine neunzehnjährige Schwester wurde 14 Tage unter dem Dach in einem Verschlag versteckt. Die Leiter wurde hochgezogen und so war der Verschlag nicht gleich erkennbar. Meine Mutter trug die eineinhalbjährige Schwester auf dem Arm, wenn die Russen kamen, und wir anderen Kinder hingen ringsherum am Kleid meiner Mutter. Das Leben war ein schrecklicher Albtraum. 


Eines Tages hörten wir am Vormittag ein fürchterliches Frauengeschrei. Uns gegenüber, in einem mehrstöckigen Haus, befanden sich in einem Zimmer mehrere Frauen und Kinder. Russen spürten sie auf. Ein 14-jähriges Mädchen, das fliehen wollte, wurde mehrere Treppenabsätze von einem Russen hinunter gestoßen. Sie war total im Gesicht und am Körper zerschlagen. Tschechische Kontrollposten kümmerten sich um diesen Vorfall. Während dieser Zeit kam ein junges Mädchen über Umwege zu uns, um von Russen nicht gesehen zu werden und bat meine Mutter um Hilfe, sie zu verstecken. Sie brachte sie zu meiner Schwester unter das Dach. 

Ganz zu Anfang schliefen auch wir nachts in diesem mehrstöckigen Haus zwei bis dreimal mit anderen zurückgekehrten Menschen in einem Zimmer. Ein Schrank, der im Zimmer stand, wurde vor die Tür gestellt. Die Russen kamen nachts und versuchten ins Zimmer zu kommen. Erwachsene drückten mit aller Kraft den Schrank gegen die Tür. Offenbar war es den Russen auch unheimlich, sie gingen wieder und kamen nicht mehr zurück. 

(Einfügung der Heimatlandschaftsseite: Stadtplan von Jägerndorf – Panzerlager an der Türmitzer Straße und Wohnhaus eingetragen)


Zwei Wochen verbrachten wir in unserer Wohnung, bis wir am 22. Mai 1945 ins Panzerlager, man kann auch KZ sagen, gesperrt wurden. 

Hier setzte sich der Terror fort. 

Wir bekamen einmal täglich gelbe Schweinefutterrüben-Stückchen in Salzwasser gekocht und ein Stückchen Brot dazu. Wir hungerten, wir hatten unsagbare Angst, wir waren Freiwild, zum Abschuss freigegeben. Nachts kamen die Tschechen und suchten nach Frauen. 

Zwei Tschechen wollten meine neunzehnjährige Schwester mitnehmen. Mein Vater stellte sich dazwischen und sagte, dass das nicht ginge, sie sei mit einem Tschechen verlobt. Wäre es herausgekommen, dass das nicht stimmt, sie hätten meinen Vater totgeschlagen. Diese Tötungsart praktizierten sie mit Vorliebe. 


Eines Morgens verspätete sich ein junger Mann zum Männerappell um wenige Minuten. Sie schlugen ihm den Darm heraus. Alle Männer mussten zuschauen, keiner durfte wegsehen. 

So lebten wir in Angst und Schrecken. Wir waren nicht nur unterernährt, sondern auch schwer traumatisiert. 

Der Hungertod stand uns vor Augen. 

Eine Frau von der Stadt kommend, überschritt um wenige Minuten die Ausgangssperre. Ihr wurde ins Bein geschossen. 

Am 21. Juni 1945, also nach vier Wochen Lagerzeit, bekam meine Mutter die Aufforderung, mit fünf Kindern am nächsten Morgen, den 22. Juni 1945 um 5:00 Uhr auf der Türmitzer Straße zum Abtransport anzutreten. 

Sie sollte nicht nur ihren Mann, sondern auch noch drei Kinder zurücklassen. Drei Kinder im Alter von 13, 16 und 19 Jahren. 

Meine Mutter war von Statur eine kleine Frau, aber sehr mutig und couragiert. Ohne ihre Kinder wollte sie auf keinen Fall weg gehen. Sie war sehr verzweifelt. Sie riskierte alles und ging zum Lagerkommandant. Das war unglaublich mutig. Sie kämpfte um ihre Kinder und bettelte so lange, bis er von seinem Stuhl am Schreibtisch aufstand, ans Fenster ging, eine Weile hinausschaute und sagte: "Nehmen Sie Ihre Kinder mit." Meine Mutter war im nächsten Augenblick zur Tür hinaus.


Wilde Vertreibung


Am 22. Juni 1945, 5:00 Uhr morgens standen wir in der Türmitzer Straße zum Abmarsch bereit. Ohne Gepäck, nur das, was wir am Leib trugen. Meine eineinhalbjährige Schwester lag in einem Kinderwagen, den wir gefunden hatten und die Dreijährige saß im kleinen Leiterwagen. Nun mussten erst einmal alle Wertsachen vor die Füße gelegt werden, bei Androhung erschossen zu werden, wer dieser Aufforderung nicht nachkommt. Geld, Sparbücher, Schmuck, sogar die Eheringe wurden eingesammelt. 

Nun stand meine Mutter mit acht Kindern mit Null und Nichts auf der Straße. 

Bevor sich diese Menschenmasse in Bewegung setzte, wurden wir durch einen heftigen Gewitterregen völlig durchnässt. Vater umarmte uns alle noch, er musste zurückbleiben. Ich erinnere mich noch sehr genau. Sein Gesicht stachelte, er war noch nicht rasiert. 

Es vergingen mehr als 2 Stunden, bis wir endlich los marschierten. 

Dieser wilde Vertreibungstreck bestand aus circa 2000 - 3000 Frauen, Kindern, alten und kranken Menschen. Wir wurden schwer bewacht, wie Verbrecher. 

Es war, wie sich später herausstellen sollte, die wilde Vertreibung, der Hungermarsch von Jägerndorf nach Grulich, in Etappen. Uns ging es von allen, die die Heimat verlassen mussten, am allerschlechtesten, weil wir mehr als 100 km ohne Verpflegung gehen mussten und allen nur erdenklichen Schikanen ausgesetzt waren. Sie jagten uns absichtlich durch das Altvatergebirge, damit so viele wie möglich zugrunde gehen, was ja auch geschah. Es hätte auch einen direkteren, leichteren Weg gegeben. Kinder unter einem Jahr sind alle verhungert und die Menschen, die vor Erschöpfung liegen blieben, wurden erschossen. 

Die erste Etappe war Jägerndorf - Würbenthal. Es waren mehr als 30 km Fußmarsch. Fünf Wochen vor meinem achten Geburtstag musste ich auch die ganze Strecke gehen. Es war mörderisch. Wir bekamen den ganzen Tag keine Verpflegung. 

Wir waren noch nicht sehr weit gegangen, da lösten sich im Regen die gepressten Pappräder des Kinderwagens auf und zwei Räder fielen ab. Wir wollten zum Umladen stehen bleiben, aber der Wachposten trieb uns weiter. Meine Schwester schob den Wagen so gut es ging weiter, während meine Mutter die eineinhalbjährige Schwester heraus nahm und den Wagen entleerte. Meine Schwester stellte ihn an den Straßenrand. 

Meine Mutter und Schwester trugen das Kind auf dem Arm von Jägerndorf bis Grulich in Tagesetappen. 

Wir mussten uns so unauffällig wie möglich verhalten, denn die begleitenden Wachposten holten Frauen aus dem Transport heraus und vergewaltigten sie. Andere wurden geschlagen oder erschossen. 

Die zwei kleinen Schwestern blieben den ganzen Tag in ihren verschmutzten Hosen, obwohl die Dreijährige uns immer wieder sagte, wann sie aufs Töpfchen wollte. Es war grausam und unmenschlich, wie wir traktiert wurden. Tiere wurden nicht so unmenschlich behandelt. 

Ein unbändiger Überlebenswille und panische Angst ließen uns diese Strapazen durchhalten, aber an erster Stelle durch Gottes Hilfe. 

Eine junge Mutter fiel mir noch in Jägerndorf im Treck auf. Sie kam offenbar von einem anderen Lager aus Jägerndorf. Sie hatte zwei Koffer und zwei Kinder. Zwei kleine hübsche Mädchen von circa drei und vier Jahren. Sie waren niedlich angezogen. Es dauerte nicht lange, stellte sie den ersten Koffer an eine Haustür, wie so viele, die ihre Habseligkeiten am Straßenrand liegen ließen. Irgendwann weinte die jüngere Tochter und sagte: „Mutti, ich bin so müde, setz mich doch auf den Wagen.“ Die Mutter hatte aber keinen Wagen. Sie konnte das Tempo nicht mehr mithalten und wir verloren sie aus den Augen. 

Ich mag nicht daran denken, was mit ihr und den Kindern geschah. 

Ich selbst hatte irgendwann auf der Strecke die Familie verloren. Ich rannte im Treck so lange vor und zurück, bis ich sie wieder fand. Ich hatte schreckliche Angst, allein zu sein. 

Völlig übermüdet und entkräftet kamen wir abends in Würbenthal an. Aber nicht alle. Immer wieder hörten wir auf dieser Strecke Schüsse. Menschen, die diese mörderischen Strapazen ohne Verpflegung und Pause nicht durchstehen konnten, wurden erschossen. 

Wir übernachteten in Würbenthal in einem leer stehenden Lagerhaus auf blankem Zementboden. Aber die Menschen waren so erschöpft, dass sie einfach umfielen und einschliefen. 

Wir bekamen eine Suppe, mehr Wasser als Inhalt und ein Stückchen Brot. 


Am zweiten Tag, den 23. Juni 1945, mussten wir in aller Frühe zum nächsten Fußmarsch antreten. Uns war kalt, wir waren hungrig und müde. 

Es gab tagsüber wieder keine Verpflegung. An diesem Tag marschierten wir über das Gabelkreuz Richtung Freiwaldau, mehr als 20 km. Der Bewachungswechsel war noch brutaler als am ersten Tag. Viele hatten ihre Habseligkeiten schon in den Straßengraben geworfen, weil jedes Gramm Gewicht wie eine schwere Last war, bei abnehmender Kraft. 

Wir marschierten ununterbrochen bergauf über das in etwa 1000 m Höhe gelegene Gabelkreuz im Altvatergebirge. Die Menschen schleppten sich nur noch mühsam die Bergstraße hinauf. Die Bewacher mussten am Gabelkreuz eine Rast einlegen. Die Erschöpfung der Menschen war zu groß.


(Einfügung der Heimatlandschaftsseite: Am Gabelkreuz gedenkt regelmäßig der Heimatkreis Jägerndorf des Jägerndorfer Hungermarschs.) 


Am späteren Abend erreichten wir Freiwaldau. 

Wieder kamen wir in eine große Halle mit Zementboden. Tieren hätte man Stroh hingestreut. Wir schliefen in den gleichen Kleidern, die wir anhatten, monatelang, denn nach der Vertreibung hörte ja das Elend nicht auf. 

Wieder gab es nur eine dünne Suppe und ein Stückchen Brot. Nicht genug um satt zu werden, ganz zu schweigen, um Kraft zu bekommen. 


Dritter Tag, Sonntag, 24. Juni 1945. 

Auch am Sonntag wurden wir gnadenlos weiter getrieben. Diese Etappe war vermutlich von Freiwaldau bis Mährisch-Altstadt vorgesehen. Immer mehr Menschen brachen zusammen. Es war nur noch ein qualvolles sich Dahinschleppen. Nach über 20 km Fußmarsch kamen wir nach Weigelsdorf. Keiner konnte mehr weiter. Wir kamen wieder in eine große Lagerhalle mit Zementboden. 

Die Nächte waren sehr kalt. Hunger, Kälte, Erschöpfung, panische Angst, wie lange sollte das noch weiter gehen? Meine Mutter und wir acht Kinder hatten bis jetzt durchgehalten. Gewiss nicht aus eigener Kraft, da hat Gott bereits schon unzählige Wunder gewirkt. Ein Tag verlief wie der andere. Wann hat das Elend ein Ende? 

Am vierten Tag, am 25. Juni 1945 schleppten wir uns noch bis Mährisch Altstadt. Wir waren alle längst am Ende unserer Kraft. 

Mein neunjähriger Bruder und ich, knapp acht Jahre alt, weinten, wenn wir eine kleine, leere Milchkanne tragen sollten, die irgendjemand im Treck weggeworfen hatte. Sie war klein und leicht, aber uns hungrigen und erschöpften Kindern trotz allem zu schwer. 

Seit unserer Flucht vor den Russen, am 18. März 1945, hatten wir ja schon unter Mangelernährung, Strapazen und Ängsten sehr zu leiden.

Anscheinend blieben wir bis 27. Juni 1945 in Mährisch Altstadt, wie andere berichten. An diese Pause erinnern wir uns nicht, auch meine damals neunzehnjährige Schwester nicht. 

Es war wieder so, wie in den Tagen zuvor. Auf dem Zementboden geschlafen, dünne Suppe.


Am 28. Juni 1945, morgens 7:00 Uhr, setzte sich der Hungertreck von Mährisch Altstadt nach Grulich in Bewegung. Wieder ohne Verpflegung. Die Menschen waren apathisch und kraftlos. Am frühen Abend kamen wir in Grulich an. Viele Menschen starben auf allen Etappen. 

Wir kamen in eine große Halle einer Propellerfabrik. Und wieder lagen wir auf Zementboden. 

Eine Frau verstarb vor der Halle und ihre kleinen Kinder krochen auf ihr herum. Sie verstanden noch nicht, dass ihre Mutter tot ist. 

Die Toiletten waren verstopft und die Fäkalien liefen bis in die Halle hinein. Es war ein fürchterlicher Gestank. 

Wieder gab es nur Wassersuppe. Wir fielen auf den Zementboden und schliefen vor Erschöpfung bald ein. 


29. Juni 1945. 

Am nächsten Tag kamen tschechische Bauern und suchten unter uns total erschöpften Vertriebenen nach Arbeitskräften. Ein Bauer suchte meine 19-jährige Schwester und meinen 16-jährigen Bruder aus. 

Meine Mutter war wieder unendlich mutig. Sie sagte: "Entweder die ganze Familie oder niemand.“ Uns Kinder wollten sie nicht. So entgingen wir alle der tschechischen Zwangsarbeit. Das war wieder ein Wunder. Andere hatten nicht das Glück. 

Eine Mutter wollte sich nicht von ihrer Tochter trennen. Sie wurden beide geschlagen und in einen Raum getrieben und weiter geschlagen. Wir hörten ihre Schreie. 


Die Zeitdauer des Aufenthalts in Grulich wird von verschiedenen Teilnehmern zwischen 2 - 5 Tagen angegeben. Das kann so stimmen. Das Aussortieren von Arbeitskräften durch tschechische Bauern ging ja nicht von heute auf morgen bei dieser großen Menschenmasse. Auch das Verladen in Güterzüge konnte unmöglich für alle in einem Tag bewältigt werden. 


(Einfügung der Heimatlandschaftsseite: Blick vom Muttergottesberg auf die Stadt Grulich)


3. Juli 1945. 

Der nächste Fußmarsch führte zum Bahnhof Grulich. Auf dem Gleis stand bereits ein Güterzug mit offenen Waggons bereit. Pro Waggon wurde eine bestimmte Anzahl Menschen abgezählt, dann ging die Schranke herunter. Nun wurde wieder abgezählt und mitten durch unsere Familie fiel die Schranke herunter. 

Meine Mutter und einige Geschwister waren bereits durch und einige Geschwister und ich standen noch hinter der Schranke. 

Meine Mutter bettelte, dass die Kinder noch durchkommen dürfen. Wieder geschah ein Wunder. Die Schranke ging hoch. Wir wurden zu oben offenen Waggons gebracht. Es gab keine Hilfe für den hohen Einstieg. Die erschöpften Menschen mussten sich gegenseitig helfen, hineinzukommen und auch herauszukommen. Wir saßen auf dem blanken Boden, einer neben dem anderen, keiner hätte umfallen können. So fuhren wir zwei Tage und zwei Nächte ohne Essen und Trinken. Als Toilette diente ein alter Eimer. Jeder musste sich vor aller Augen darauf setzen. War der Eimer voll, wurde er während der Fahrt oben hinaus gekippt. Tote wurden auch so entsorgt. 

Hielt der Zug irgendwo, was selten geschah, wurde von außen, ohne den Riegel zu öffnen, nach Toten gefragt. Wo Tote waren, wurden sie ausgeladen. Wir fuhren von Grulich bis Teplitz Schönau, dass waren 300 km. 


6. Juli 1945. 

Wieder, sehr früh, mussten wir antreten und wurden schwer bewacht durch Teplitz Schönau getrieben. Nach 10 km Fußmarsch, meistens bergauf, erreichten wir Zinnwald. Der Schlagbaum öffnete sich und wir wurden über die Grenze nach Deutschland geschoben. 

Die Vertreibung dauerte vom 22. Juni 1945 bis zum 6. Juli 1945. Wir waren wie Schwerverbrecher bewacht. 

Die Bewacher sagten, dass wir in Zinnwald alle aufgehängt würden. 


Nach unserer Vertreibung kam Vater anschließend aus dem Panzerlager zur Zwangsarbeit in die Sandgrube Polanka, Wittkowitz. 

Sie mussten unter härtesten Bedingungen schwerste Arbeit leisten. Wenig essen, viel Schläge und Folter waren das tägliche Los. 

23 Männer, mit denen mein Vater teils im Lager war und teils mit ihnen zusammengearbeitet hatte, wurden entweder erschlagen, oder sie verunglückten tödlich während der Arbeit, oder sie erhängten sich. Manche wurden so gefoltert, dass sie sich noch in der gleichen Nacht erhängten. Vater konnte 1946 schwer krank mit seinen beiden Schwestern, die zur Zwangsarbeit in tschechischen Familien verpflichtet waren, ebenfalls im Güterzug nach Bad Berneck BRD ausreisen. 

Wir lebten von Juli 1945 bis Oktober 1945 ab Zinnwald bis Niedersedlitz bei Dresden in verschiedenen Barackenlagern, jeweils mit vielen Heimatvertriebenen in einem Raum, teils auf blankem, verschmutztem Stroh, teils auf Soldatenpritschen mit Stroh. Ein Waschbecken mit kaltem Wasser stand nicht überall zur Verfügung. 

Wir Heimatvertriebenen wurden von keiner Organisation versorgt. Wir gingen täglich von Haus zu Haus betteln, um nicht zu verhungern. Manchmal bekamen wir ein Stück Brot, manchmal nicht, denn andere waren oft schon vor uns da. Inzwischen waren wir alle unterernährt, denn schon ab März 1945 hatten wir keine ausreichende Nahrung mehr. 

Meine Mutter versuchte in Niedersedlitz eine Lebensmittelkarte für meine halb verhungerte, anderthalbjährige Schwester zu bekommen. Dies wurde von dem Beamten abgelehnt, mit der Begründung: "Wenn wir Ihnen eine Lebensmittelkarte geben, müssen wir ja verhungern". Damit meinte er die Ansässigen, obwohl sie keine materiellen Verluste erlitten hatten. Meine Mutter bekam keine Lebensmittelkarte, nicht einmal für einen halben Liter Milch. 

Nicht nur der Hunger setzte sich auf deutschem Gebiet fort, sondern auch die unsagbaren Ängste vor den Russen. Sie kamen jede Nacht, um Frauen zu holen. 

Im Oktober 1945 wurden wir vom Bahnhof Dresden in einen Zug verfrachtet, und kamen ohne zu wissen wohin, nach Thüringen DDR, wieder in ein Lager. 

Wir hausten 6 Wochen mit 20 Personen, darunter ein Mann mit offener Tuberkulose, in einem Barackenraum. Soldatenpritschen mit Stroh, auf denen wir schliefen, waren auch unsere Sitzgelegenheit. Mein neunjähriger Bruder erkrankte an Knochentuberkulose. 

Meine Mutter organisierte irgendwoher 1 Pfund Mehl. Sie hatte ein kleines Töpfchen mit 2 Henkeln, Inhalt 1⁄4 Liter. 

Darin kochte sie morgens in der Glut des Kanonenofens 9 Portionen Mehlsuppe, bestehend aus Mehl, Wasser und Salz. Das war unser Frühstück, solange das Mehl reichte. Offizielle Tagesverpflegung (Suppe) gab es erst mittags. 

Der Lageraufenthalt war unerträglich. Dieser Zustand änderte sich nicht sehr wesentlich, als meine Mutter Ende November 1945 für 9 Personen in einem Haus 2 kleine Zimmer im 1. Stock mit Soldatenpritschen und Strohsäcken zugewiesen bekam, sowie einen kleinen Raum im Parterre mit altem Kohleofen zum Kochen, aber kein Heizmaterial, altes, verbeultes, ausrangiertes Küchengerümpel, trotz allem nicht genug, dass wir gemeinsam hätten essen oder gar sitzen können. 

Die Not war unendlich groß. Wir bekamen nicht einmal das Allernötigste, geschweige denn das Nötigste. So lebten wir in bitterster Armut zu viele Jahre in der DDR. 

Ständige Mangelernährung gehörte ebenso dazu. 

Weitere Einzelheiten von Juli 1945 bis November 1945 aus deutschen Lagern und über das Leben danach zu berichten, würde den Zeitrahmen sprengen. 

Von öffentlicher Seite wurde in der gesamten DDR geleugnet, dass wir Heimatvertriebene sind. Wir wurden als Aussiedler bezeichnet. Demzufolge sahen die Verantwortlichen keinen Grund, uns Mittellosen und Ärmsten der Armen zu helfen. 

Was das für eine Mutter mit acht Kindern über viele Jahre bedeutet hat, kann sich wohl kaum jemand vorstellen. 

Hier begann der Tragödie zweiter Teil ums nackte Überleben. Aber das ist Erlebnisstoff für einen weiteren Bericht.