Von Annemarie Dreher 1938–1946 aus dem Kreis Jägerndorf image
(Die Rechtschreibung und Zeichensetzung ist nur an wenigen Stellen korrigiert worden, um die Authentik des Berichts nicht zu mindern. Die Zeilenumbrüche wurden hingegen dem Blocksatz angenähert.)

Ich wurde am 19.11.1927 als dritte Tochter meiner Eltern in Lobenstein geboren. Es war keine sehr große Freude, denn ich sollte ein Sohn sein.
Meine Eltern brauchten einen Erbhofbauern.
Ich ging fünf Jahre in die örtliche Volksschule, dann wurden wir vom bevorstehenden
Krieg informiert. Wer sollte eigentlich gegen wen Krieg führen? Mein Heimatort Lobenstein lag einen halben Kilometer von der oberschlesischen Grenze entfernt, damals (Deutsches Reich heute Polen). Unser Dorf hatte fast 2000 Einwohner wovon alle deutsche Staatsbürger waren. Die Zollbeamten und Ihre drei Familien, sowie der örtliche Pfarrer waren Tschechen. Von Ihnen hatten wir nichts Böses zu befürchten. Die Kinder der Zöllner holten bei uns in der Landwirtschaft die Milch. Sie konnten leider nur einige Worte deutsch sprechen und wir Kinder ebenso wenig tschechisch. Wenn sie manches mal ein paar Brocken deutsch sprachen lachten wir. Genauso lustig fanden es die tschechischen Kinder wenn wir uns in ihrer Muttersprache versuchten.
Unser Vater war Mitglied des Kirchenrates. Deshalb kam auch öfter der tschechische Pfarrer zu uns nach Hause und brachte uns Kindern fast immer eine große Tüte Erdbeeren mit.
– Und nun sollte plötzlich Krieg sein – Aber warum ?????? Es war das Jahr 1938
Der Gemeindebote verkündete laut trommelnd im Dorf, dass alle jungen Männer sich in der Gemeindekanzlei melden sollten und sofort zum tschechischen Militär einrücken müssten. Am selben Abend kamen mehrere Männer aus unserer Gemeinde zu uns, die im gleichen Alter meines Vaters waren. Sie entschieden sich, als Deutsche niemals gegen deutsche Kameraden zu kämpfen. Sie beschlossen deshalb noch in der gleichen Nacht über die Grenze zu gehen: „Wir gehen nach Deutschland. Wenn wir über der Grenze sind, geben wir mit der Taschenlampe ein Lichtzeichen.“ Und sie gingen.

I
Als sie unterwegs waren standen meine Mutter und die anderen Frauen im Dunklen in unserem Obstgarten und warteten auf das Lichtzeichen. Als sie drei Licht-Kreise am dunklen Nacht-Himmel sahen hörte man auch schon die Maschinengewehre rattern. Die Grenze wurde besetzt. Die ganze Nacht fuhr Militär.
Auf dem nahen Gutshof und in der Umgebung wurden mehrere Strohhaufen angezündet. Am nächsten morgen wehte eine Hackenkreuz-Fahne auf dem Kirchturm. Wir wussten nicht wer dies alles durchgeführt hatte.
.. Schon am nächsten Tag sollten auch junge Frauen aus unserem Dorf zum tschechischen Militär, um Küchendienst und die Wäsche zu waschen.
Auch unsere Tante Toni, eine ledige Schwester unseres Vaters sollte sich zu diesem Einsatz melden. Sie stellte sofort klar, dass sie nie zum Militär gehen würde, nahm uns Kinder und ging zusammen mit einer ganzen Kolonne Menschen die sich auf der Straße versammelt hatten über die Grenze. Auf unserer Seite standen tschechische Soldaten mit Maschinengewehren in Bereitschaft.
Ein Fluss markierte die Grenze, auf der einen Seite der Brücke in der Ortschaft Branitz standen die deutschen Soldaten. (Aber in der Mehrzahl ) Als wir die Grenze überquert hatten kamen uns Rotkreuz-Schwestern entgegen, nahmen uns in Empfang und gaben uns Milch, Kakao und Schokolade. Dann wurden wir auf große Lastwagen verladen und nach Oberglogau gefahren. Dort holte uns ein kinderloses Ehepaar ab, bei dem wir dann übernachteten.
Am nächsten Tag versammelten wir uns beim örtlichen Bahnhof. Wir wurden in schönen Personenzügen untergebracht wo uns die Rotkreuz-Schwestem versorgten. Sie blieben bei uns und fuhren mit uns in Richtung Norden. Wir kamen nach Pasewalk, Wsinemünde Ökermünde in Pommern. Von dort fuhren wir mit dem Schiff auf eine Insel sie hieß Neuwarps.

II
Dort stand ein großes Kinderheim, indem unsere halbe Gemeinde Platz hatte. Die Rot Kreutz Schwestern machten mit uns Spiele, wir gingen am Strand Muscheln suchen. Es ging uns dort verhältnismäßig sehr gut. Trotzdem fing der kleine Othmar oft an zu weinen und fragte nach seiner Mutter. Er war 3 Jahre. Da wurde uns plötzlich auch bewußt, wie sehr uns unsere Mutter fehlte. Sie muste ja zu Hause bleiben um alleine das Vieh zu versorgen, es handelte sich um 8 Kühe, 8 Stück Jungvieh, 3 Pferde und die Schweine. Unsere Mutter war die eiserne Lady.
Wir waren fast 2 Wochen in dem Kinderheim, wo es uns sehr gut ging. Dann wurden wir plötzlich alle in den großen Speisesaal des Heimes geholt, wo ein
großes Radio stand. Der Sprecher teilte mit, dass die deutschen Truppen die tschechische Grenze überschritten haben und in Lobenstein einmarschieren. Die älteren Leute unserer Gruppe weinten, wir Kinder freuten uns über diese Nachricht. Es dauerte vier Wochen bis wir wieder heimkehren konnten. Zuhause in Lobenstein wurden wir mit Musik am Bahnhof enpfangen. Unser Vater war bereits vor uns zurückgekehrt. Er war in Bad Hersfeld beim Straßenbau tätig. Jetzt gingen wir wieder zur Schule und alles kehrte zum gewohnten Trott zurück. Bis zum 1. September 1939 plötzlich eine neue Kriegsmeldung mit Polen kam. Wir bemerkten, dass viele Militärkolonnen durch unser Gebiet fuhren, an was man sich jedoch irgendwie gewöhnte, besonders weil es sich um deutsches Militär handelte. Dieser Feldzug dauerte mit 4 Wochen nicht sehr lange.
Als ich mit noch keine 14 Jahren aus der Volksschule kam, mußten wir sofort der Hitlerjugend (BDM) beitreten. Wer sich weigerte diesem Pflichtdienst beizutreten, musste mit einer Bestrafung seiner Eltern rechnen.

III
Die Gemeinschaft in der Hitlerjugend war für uns eine willkommene Abwechslung. Wir hatten zwar 2 mal wöchentlich Dienst.
Dienstags wurde geturnt oder Gymnastik gemacht, Donnerstags wanderten wir oder lernten Kampflieder ein. Am Sonntags morgens zogen wir des öfteren durch unser Dorf. Voran 3 Fanfarenbläser, gefolgt von 3 großen Fanfarentrommlern. Begleitet von dem Schmettern der Fanfaren, sangen wir die uns gelernten Lieder. Für uns war es in dieser Zeit die einzige Möglichkeit dem Alltagstrott zu entkommen und etwas Abstand von zu Hause zu entkommen. Es hieß für uns immer nur arbeiten. Herta und ich mussten sogar oft schwerste Männerarbeiten verrichten. Unser Hof umfasste 20 ha Ackerboden und 10 ha Wald. Für unsere Landwirtschaft wurde uns kein Kriegsgefangener als Helfer abgestellt, dafür hätten wir eine Ackerfläche von 30 ha gebraucht. Es hieß immer, wir seien Leute genug.
Wir wurden sehr streng erzogen, jeder „Ausrutscher wurde sehr hart bestraft. Auch mich trafen diese Strafen des Öfteren und ich musste z.B. wegen Unartigkeiten wochenlang unsere drei Pferde putzen. Herta, unsere älteste Schwester, war für unsere Kühe zuständig, Ilse ging zur Arbeit ins
Büro, Traudl noch ins Gymnasium, Othmar war unser Jüngster.
Branitz, Oberschlesien (heute Polen) war ein großer Marktflecken, dort befand sich eine Nervenklinik (wie in Günzburg). Die „Unheilbaren" wurden abtransportiert und es wurde ein Lazarett daraus gemacht. Wegen dieses Lazaretts hielten in Lobenstein die D-Züge und alle anderen Schnellzüge. Sonntags abends war an unserem Bahnhof immer etwas los. Die Leute aus der Umgebung brachten Ihre Feldpost. Wenn man um 18.00 Uhr bei uns auf dem Bahnhof den Zug nach Berlin bestieg, konnte man um 21.30 Uhr bereits in Berlin sein. Der Schnellzug hielt auf dieser Strecke nur 2 mal. Diese Vorteile
brachte uns das nahe liegende Lazarett. Aus der Krankenstation kamen in der Erntezeit auch jeden Tag Erntehelfer, die etwas besser beieinander waren.

IV
Am 22. Juni 1941 brach der Krieg mit Russland aus.
Für uns ging die Arbeit ihren gewohnten Gang weiter. Eines Tages zog in unserem Ausgedünge (Pfründewohnung) ein Ehepaar namens Papenbruck ein. Der Mann arbeitete ehrenamtlich bei einem Rüstungsbetrieb, seine Frau war tagsüber bei uns. So vergingen einige Jahre und man gewöhnte sich an alles. Eines Tages, im Oktober 1944, jedoch kam Frau Papenbruck mit der Nachricht zu uns, dass sie uns verlassen wird und wegen des befürchteten Einmarsches der Russen wegziehen werden. Da sie selbst kinderlos war, meinte Frau Papenbruck eines von uns Mädchen solle doch mit ihr gehen. Keines von uns Kindern wollte natürlich von unserer Familie weg. Ein großer Lastwagen holte die Papenbrucks ab und fuhr sie nach Hamburg in ihr ehemaliges zuhause. Die Adresse lautete: Willi Papenbruck, Hamburg, Grafensteiner Weg 12. Bei der Abfahrt rief Sie uns noch zu: „Kommt uns besuchen!!". Leider kam es nie dazu.
Der Winter zog ein und wir fuhren fast täglich in den Wald um Holz zu machen. Im bitterkalten und schneereichen Januar 1945 schaufelten wir uns einen
Weg zur Scheune, damit wir Stroh holen konnten. Plötzlich fing unser Hund wie verrückt an zu bellen und jaulen, unsere Kühe brüllten und zerrten an Ihren Ketten. Wir sahen uns an und fragten uns, was eigentlich los ist. Dann hörten wir aus der Ferne ein —Ratsch-Ratsch-Ratsch -. Das Geräusch kam immer näher. Unsere Blicke suchten den Himmel ab —aber nichts. Dann sahen wir zur Kaiserstraße hinüber. Nun sahen wir eine ganze Kolonne berittene SS, dahinter Tausende jüdische Gefangene mit kahlgeschorenen Köpfen, in Sträflingskleidung und teilweise in Lumpen gewickelt. Dazwischen fuhren große Planwägen. Das Ratsch-Ratsch kam von den erschöpften, schwerfälligen Schritten der Juden im hohen, kalten Schnee. Sie kam aus Auschwitz!!!

V
Kurz darauf wurde unser Hoftor aufgerissen, drei große Wägen fuhren herein und 8 Reiter befahlen im Hof ein großes Feuer zu machen und eine große Feldküche aufzustellen. Die Judenmädchen und -frauen mussten in der Scheune schlafen, die Männer wurden im Stall untergebracht. In unserer Küche wurde eine Friseurstube eingerichtet. Wir hatten keine sehr große Küche, waren aber selbst 7 Personen. Wir mußten es dulden, es ist Krieg his es.
Für die jüdischen Gefangenen wurde im Hof in einem großen Kessel Kuhfleisch komplett mit dem Fell der Tiere gekocht! Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.
Abends nach dem Melken gaben meine Mutter und Herta den Juden einen Teil der Milch. Ein SS-Mann kam dazu, beobachtete dies und sagte zu meiner Mutter: „Wissen Sie, dass ich sie dafür erschiessen kann?" Meine Mutter antwortete: „Es sind doch auch Menschen". Daraufhin dreht sich der SS-Mann um und ging weg. Dieser Transport blieb 5 oder 6 Tage auf unserem Hof, dann zogen sie weiter. Zwei Tage später stand wieder berittene SS vor unserem Grundstück. Sie rissen unser Hoftor auf, durchsuchten Scheune, Heuboden und Keller. Es fehlten bei dem Gefangenen mehrere Hundert Juden. Nun wurden alle Bauernhöfe unserer Ortschaft durchsucht, die Gefangenen wurden jedoch nicht gefunden.
Als Nächstes ordnete man eine Versammlung auf dem größten Gehöft unseres Dorfes an. Jedes landwirtschaftliche Anwesen musste einen Planwagen bauen, jeweils nach dem möglichen Gespann, die großen Bauern sogar zwei dieser Wagen. Man ging folgendermaßen vor: Ein großer Leiterwagen wurde breiter gemacht, mit Brettern dicht verkleidet und mit einem festen Boden versehen. Vier starke Eisenbügel wurden als Dachkonstruktion mit einerwasserdichten Plane angebracht.

VI
Auf diesen Wagen befestigte man 4 große Kisten, zwei davon für Kleidung, eine Kiste für Lebensmittel wie Speck, Schmalz, Mehl, Eier usw. und eine schmale Kiste diente als Kutschbock gefüllt mit Hafer für die Pferde. Auf die Kisten legte man Federbetten. Diese Aktionen wurden von den Männern des Volkssturms überwacht. Dieser Wagen musste für alle Fälle jederzeit bereitstehen. Am 23. März 1945 früh um drei Uhr polterte es an unserer Haustüre. Unsere Mutter ging nach draußen, es wurde ihr mitgeteilt, dass die Front durchbrochen sei. Wir mussten sofort den Planwagen einspannen und so schnell als möglich unseren Hof verlassen. Die Volkssturmmänner lösten schnell die Ketten der Kühe im Stall und auch die Schweine wurden verladen. Das Vieh brüllte vor Aufregung. Es stand ein roter Feuerschein am Himmel. Die Geschütze donnerten, das Militär schoss, wir wussten nicht wohin. Ich musste mit dem schwer beladenen Treck-Wagen fahren. Vater war beim Volkssturm. Diese Männer bauten Panzersperren. Wir kamen nur ca, 1,5 Kilometer bis in den nahegelegenen Wald. Alles war voll Militär und Flüchtlinge . Wir sahen Flieger über unserer Gemeinde, die „Christbäume" abwarfen, worauf es hell wie am Tag wurde. Schnell hackten wir im Wald Äste von den Bäumen um damit unsere Wagen zu tarnen. Erst am darauf folgenden späten Nachmittag konnten wir unsere Fahrt fortsetzen, nachdem sich die Lage etwas entspannt hatte. Wir fuhren über Pikau, Larischau, Lichten, Benisch und Spachendorf. Wir übernachteten 2 mal unter freiem Himmel. Das Ziel unseres Trecks war mährisch Schönberg. Unsere Mutter sagte, dass wir nicht so weit fahren werden. Wir bogen heimlich vom Treck ab und fuhren nach Boidensdorf. Dort wohnte eine Cousine meines Vaters. Als sie uns ankommen sahen, erschraken sie mit dem Kommentar: „Was—ihr kommt auch!!"
Trotzdem machten sie gleich Platz für uns und gaben uns zu Essen. Außerdem wurde uns ein schönes Zimmer hergerichtet. In diesem Jahr kam der Frühling sehr früh. Ich half in der Landwirtschaft auf den Äckern mit unserem Gespann .

VII
Überall waren eine Menge Soldaten und und viele Ungarn. In der Holzhütte des Anwesens schliefen zu dieser Zeit auch 4 junge Mädchen aus Dresden. Alle diese Leute wollten natürlich etwas essen und unsere Tante (so nannten wir Vaters Cousine) hatte deshalb für die Küche bald keine Kartoffeln mehr. Die Kartoffeln, die noch übrig waren, brauchte sie als Saatkartoffeln zum Auslegen. Bei uns zu Hause in Lobenstein waren die Kartoffelkeller noch voll bis zur Decke. Es stellte sich nun die Frage, wer von uns sich trauen würde, nach Lobenstein zu fahren und die Kartoffeln zu holen. Es wurde der Beschluss gefasst, dass ich diese Aufgabe übernehmen müsse. Alle dachten wohl , ich hätte keine Angst, die hatte ich auch , aber vielleicht etwas
mehr Mut, aber was blieb mir übrig —ich musste einfach fahren. Ilse begleitete mich und wir fuhren los.
Unsere Tante lieh uns einen leichteren Wagen für diesen Transport. Wir fuhren wieder durch die schon genannten Gemeinden zurück und bald standen wir vor meiner Heimatgemeinde Lobenstein. Wir sahen nach allen Seiten, doch nirgends rührte sich etwas. Als wir durch unseren Ort fuhren meinten wir in einer Geisterstadt zu sein. Kein Mensch war auf der Straße, niemand sah aus einem Fenster, nur hier und da bellte ein Hund. An unserem Hof angekommen, öffneten wir das Tor und sofort kam unser Hund gelaufen, sprang an uns herauf und leckte uns vor Freude ab. Wir legten die Hand auf seinen Kopf und warteten einige Zeit bis er sich beruhigt hatte. Das tat ihm sichtlich gut. Jetzt stellten wir einige große Streukörbe auf den Wagen und füllten sie mit Kartoffeln (Säcke waren für uns zu schwer zu tragen). Unsere Hühner auf dem Hof lebten noch allesamt, die Gänse saßen auf Ihren Brutstätten voller Eier. Sie hatten selbst brüten begonnen. Wir füllten einen großen Korb mit Hühnereiern. Bei unserem Gang durch den Schweinestall irritierte uns die Leere, denn hier befanden sich normalerweise immer 12 bis 16 Schweine. Für unsere Schweine hatten wir auch immer die vielen Kartoffeln zur Fütterung gebraucht. Auch im Kuhstall kam uns die Leere entgegen.

Viii
Nur unsere Pferde besaßen wir noch. Die Zuchtstute hatte die Wehrmacht geholt. Die ganze Umgebung befand sich in einer unheimlichen Stille. Bei unserer Abfahrt wurden wir von unserem Hund bis zum Ortsende begleitet, dann plötzlich war er verschwunden. Kurz nach dem Verlassendes Ortes ratterten auch schon die Maschinengewehre. Die Flagg beschoss uns und die Pferde brachen aus. Wir sprangen vom Wagen und versteckten uns in einem Graben.Der Beschuss dauerte ca. eine halbe bis dreiviertel Stunde, dann war plötzlich wieder alles vorbei. Danach suchten wir unser Gespann. Unsere Pferde standen ganz dicht an Bäume gepresst. Bei unserer Ladung waren alle Eier kaputt, die Hälfte der Kartoffeln nicht mehr vorhanden und der Wagen zum Teil beschädigt. Schnell machten wir ein wenig Ordnung auf dem Wagen und fuhren mit unseren Resten der Ladung etwas tiefer in den Wald. Plötzlich stand ein deutscher Unteroffizier vor mir, packte mich am Arm und brüllte mich mit den Worten an: „Was macht ihr Fratzen hier im Kampfgebiet? Ihr habt gerade eine Nachrichtenleitung durchbrochen. Also was macht ihr hier??" Wir antworteten: „Unsere Mutter hat uns geschickt, um Kartoffeln und Lebensmittel zu holen". Darauf kam seine Frage: „Und wenn man euch jetzt erschossen hätte, was würde dann eure Mutter sagen?" Wir ließen unsere Köpfe hängen und zuckten nur mit den Achseln und sahen dass wir weiter kamen‚ er war ja so wütend.
Als wir unsere Fahrt fortsetzen konnten kamen wir auch wieder durch den Ort Lichten. Dort musste man an einer großen Trauerweide vorbei. Ich unterhielt mich während der Fahrt mit Ilse. Auf einmal baumelten 3 Stiefelpaare über unseren Köpfen. Als wir nach oben sahen hingen in der Trauerweide 3 deutsche Soldaten. Sie waren in der Mittagszeit aufgehängt worden. Jeder von Ihnen hatte ein großes Plakat um den Hals gehängt worauf geschrieben stand — Ich habe mein Vaterland verraten und meine Kameraden verlassen — . (Sie wahren nicht älter als wir.) Auf diesen Schock hin, konnte ich in der darauf folgenden Nacht kein Auge zumachen.

IX
In dieser Nacht kamen wir in Boidensdorf an. Dort hatten sich schon alle Sorgen gemacht. Uns wurde dann auch gesagt, dass wir nicht nur einen Schutzengel, sondern gleich mehrere bei dieser Fahrt bei uns hatten. Am Tag war alles verhältnismäßig ruhig, es wurde nicht geschossen. Am Abend jedoch ging der Beschuss weiter. Es war in Boidensdorf. Wir gingen ins Freie auf eine Anhöhe und konnten beobachten wie man Troppau beschoss. Dabei wurden die „Stalinorgeln" eingesetzt —es war nur schrecklich. Unsere Mutter teilte uns mit, dass wir wieder in die Nähe unserer Heimatgemeinde zurückkehren. Boidensdorf war 26 bis 30 km von Lobenstein entfernt. Wir fuhren wieder bis zum Anfang von der Gemeinde Lichten zurück. Die Gemeinde Lichten hatte eine Länge von 6 km. Dort kannte meine Mutter eine gewisse Frau Heinerich. Bei Ihr konnten wir unseren großen Treck-Wagen unterstellen und wir fuhren mit den leichteren Gespannen heim. Wir waren damals 6 Wochen von zu Hause weg. Unsere Mutter sagte dass es eine große Hungersnot geben würde wenn der Krieg zu Enden wäre. Deshalb werden wir in Lobenstein gleich Kartoffeln legen. Also fuhren wir schon im Morgengrauen heim. Unser Hund kam wieder angelaufen und veranstaltete das selbe Freudentheater wie bei unserer ersten Rückkehr. Er war überhaupt nicht zu beruhigen.
Es ist nicht nachzuvollziehen, wovon er die vergangene Zeit gelebt hatte. Unsere Mutter und meine Geschwister luden Kartoffeln auf und ich zog mit unserem Gespann Furchen in den Ackerboden. Dann begann die ganze Familie Kartoffeln zu legen. Unsere Pferde hatten wir an den Wagen gebunden.
Während unserer Arbeit hörten wir plötzlich ein riesengroßes Getöse und einen ohrenbetäubenden Krach. Über uns ließen sich russische Flieger vom Himmel heruntertrudeln. Wir dachten, sie fallen mit Sicherheit auf uns. Wenn wir unsere Hände ausgestreckt hätten, hätten wir sie sicherlich berühren können.

X
. Die beiden Piloten konnten wir genau erkennen. In Todesangst pressten wir uns dicht an den Ackerboden. Unsere Pferde rannten in Panik in die Ferne. Wahrscheinlich wollten die Russen damals nur sehen, was von uns auf dem Acker gemacht wurde. Es viel kein Schuss das ganze Geschwader drehte ab. Es herrschte wieder unheimliche Ruhe, nur die Pferde mussten wir wieder suchen und einzufangen. Am nächsten Tag haben wir unsere Arbeit fortgesetzt. abends war der ganze Acker bestellt. Dies war der 5. Mai 1945, es fuhr kein Auto und flog kein Flieger. Das deutsche Militär hatte sich ganz weit zurückgezogen. Wir in Lobenstein befanden uns im Niemandsland. Als wir an diesem Abend zu Bett gehen wollten, kam die Kunde, dass
der Volkssturm die Panzersperren, die vor einigen Monaten errichtet worden waren, entfernen muss, denn in dieser Nacht sollte der Russe einmarschieren. Bei jedem Hindernis wird die ganze Ortschaft in Brand gesetzt. Als wir diese Nachricht erhielten, wollten wir eigentlich weglaufen. Da uns jedoch die Arbeit auf dem Kartoffelacker sehr mitgenommen hatte, nahm sich jeder eine Decke, wickelte sich ein und alle legten sich im Keller auf die noch vorhandenen Kartoffeln und wir schliefen aber nicht. Um halb Vier Uhr klopfte es ganz vorsichtig an unsere Haustür. Als Mutter nachsah, stand unser Onkel Ferdinand draußen. Er war Jäger und hatte deshalb ein scharfes Fernglas. Er forderte uns auf mit ihm hinauszugehen und nach Oberschlesien (Deutschland) zu sehen, wo die Russen bereits im Anmarsch waren. Oberschlesien hatte eine Hanglage und deshalb einen guten Ausblick. Wir konnten einige Kilometer weit hinüber sehen. Die Russen kamen in Gänsemarsch mit dem Gewehr im Anschlag auf uns zu. Sie kamen aus der Ortschaft Bleischwitz in Richtung Branitz. Was sollten wir nun tun?

XI
Unsere Mutter überlegte mit uns, dass unser Planwagen in Lichten steht, also in 15 Kilometern Entfernung. Sie meinte, wenn wir uns beeilen, wären wir bis zur Ankunft der Russen wieder zurück. Aber wie sollten wir dahin kommen? Mutter forderte uns auf, schwingt euch auf die Pferde, sonst seit ihr auch nicht so zimperlich!!
Ilse und ich kletterten auf die Pferde und ritten Richtung Lichten los. Es kam uns unendlich weit vor. Wir kamen bis kurz vor die Gemeinde Lichten, da liefen uns weinende Frauen entgegen. Sie hatten ihre Kinder in Handwägelchen bei sich und mahnten uns, nicht in den Ort weiter zu reiten. Dort waren soeben die Russen einmarschiert. Wir konnten dies nicht glauben, weil sich Lobenstein doch näher an der Grenze befand, dachten wir und ritten trotzdem weiter bis zur Ortsmitte. Dort kamen uns wirklich viele russische Soldaten entgegen, sie hielten ihre Gewehre quer über den Kopf um uns aufzuhalten und riefen
„ stoi, stoi dule". Uns fuhr der Schrecken ganz schön in die Glieder.Ich sagte zu Ilse: „Halt dich ganz fest, ich weiß einen Trick". Da ich oft unsere Pferde
putzen musste, wusste ich, wo unsere Stute (auf der ich ritt) eine ganz empfindliche Stalle durch eine Verletzung hatte. Ich fuhr mit meiner rechten Fußspitze ganz hart und fest an dieser Stelle des Pferdes entlang. Die Stute stieß einen Schrei aus, fletschte die Zähne, fuhr mit dem Kopf nach den russischen Soldaten, die sofort zur Seite sprangen und wir waren gerettet. Unsere Pferde galoppierten bis ans Ortsende, also dorthin wo unser Wagen stand. Frau Heinrich kam gleich heraus zu uns und fragte uns entsetzt: „Mädchen, wo kommt ihr denn her?" Ich habe doch gehört, der Russe wäre einmarschiert. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, weinte und fragte uns, was wir denn jetzt weiter machen. Sie sagte, bleibt hier, wir meinten, wir wollen zu unser Mutter.

XII
Darauf hin setzten wir uns Vaters Hut auf, zogen den Regenmantel an und fuhren los. Wir kamen wieder bis zur Dorfmitte, wo wir den Russen begegneten .Sie waren auch in den Häusern und verlangten nach Essen und Wodka. Es befand sich sonst niemand mehr auf der Straße. Alle hatten sich in ihren Häusern verkrochen. Es fuhren auch sehr viele Lastwägen, Panzer und Motorräder auf den Straßen, für die wir jedoch uninteressant waren. Wir mussten mit unserem Fuhrwerk nur darauf achten, dass wir an den vielen Fahrzeugen gut vorbeikamen. Wir ließen die Pferden laufen was das Zeug hielt, endlich kam Lobenstein in Sicht. Am Ortsanfang war alles noch ganz still. Wir fuhren weiter bis zur Kirche, also bis fast zur Ortsmitte. Dort stand eine Gruppe von Menschen, die uns fragte wo wir denn jetzt herkommen. Als wir ihnen unsere abenteuerliche Geschichte erzählten, glaubten sie uns nicht was sie von uns hörten, sie meinten, wir seien ebenfalls gerade von der Flucht zurückgekehrt. Wir fuhren weiter die Dorfstraße hinunter zu unserem Elternhaus. Als wir sahen, dass uns die Russen aus Richtung Branitz entgegenkamen, sprang Ilse vom Wagen und riss unser Hoftor auf, damit ich mit unserem Wagen in unser Anwesen fahren konnte. Uns folgte sofort eine Gruppe russischer Soldaten. Ilse und ich sprangen schnell vom Wagen, liefen ins Haus und sprangen
durch ein Fenster auf das Grundstück unseres Nachbarn hinüber und versteckten uns . Wie Mutter uns später erzählte, fielen die Russen laut jolend auf den abgestellten Wagen und holten sich das bei den anderen Lebensmitteln liegende Rauchfleisch. Einer der russischen Soldaten setze sich auf den Kutschbock, packte die Leitleine und die ganze Gruppe fuhr mit unserem Planwagen davon. Mutter suchte uns und meinte "Ihr könnt auf keinen Fall hier bleiben." Die ehemaligen Kriegsgefangenen verraten wo Mädchen versteckt sind. Dann holt man euch zum Kühetreiben nach dem Osten."Die Mädchen wurden oft missbraucht. Als es dunkel wurde gingen wir Schritt für Schritt, schleichend und immer wieder stehend bleibend einen hinter unserem Dorf liegenden Feldweg entlang, bis wir zu einer Tante kamen. (Anmerkung von Lorenz Loserth: Bei der Tante handelt es sich um Tante Marie, geborene Jakusch, verheiratete Kudlich.)

XIII
Diese Tante hatte 2 Söhne namens Franz und Roland. Bei ihr vermutete uns niemand. Wir krochen durch Dunstlöcher auf einen Heuboden. Es hatten
sich hier 10 Mädchen versteckt. Unsere Tante reichte uns durch die Dunstlöcher das Essen, Tauben oder Hühner —sie hatten so viele . Am Tage legten wir uns ganz flach auf den Boden, da die Russen, die sich im Hof aufhielten auf die Tauben schossen. Wir waren nun fast 3 Wochen hier und hörten von Erzählungen, dass nicht mehr so viele Soldaten im Ort wären. Deshalb krochen wir vorsichtig aus unserem Versteck und gingen diesen genannten Feldweg wieder angstvoll umschauend und auf jedes Geräusch achtend Schritt für Schritt wieder zurück. Als wir bei unserer Mutter ankamen, teilte sie uns mit, dass unser Vater verhaftet worden war und niemand weiß, wo man ihn hingebracht hatte.
Trotzdem freuten wir uns, dass wenigstens wir wieder beieinander waren. Wir begannen uns zu waschen , auch unsere Kleidung. Als wir unsere Wäsche zum Aufhängen ins Freie trugen wurden wir wieder beschossen. Wir rannten in Panik ins Haus und
warren hinter uns die Türe zu. Die Haustüre wurde jedoch von den Maschinengewehrsalven von oben bis unten durchlöchert. Soldaten stürmten ins
Haus und unterstellten meiner Mutter, dass sie hier Mädchen verstecke. Meine Mutter entgegneteIhnen, dass Mädchen im Hof gewesen seien. Wir waren inzwischen sofort wieder aus dem Fenster gesprungen und hatten uns beim Nachbar versteckt. Die Soldaten durchsuchten das Haus, fanden uns aber nicht Unsere Mutter kam uns suchen und sagte, dass wir nicht mehr zu Hause bleiben könnten. Diese Soldaten waren keine Russen sondern tschechische Milizsoldaten. Sie waren in Zivil , hatten weise Armbinden mit roter Aufschrift ,, Milize". Sie teilte uns mit, dass wir alle ins Lager müssten. Wer außerhalb des Lagers angetroffen werde, kann ohne Warnung erschossen werden. So mussten wir also ins Lager..

XIV
Für dieses Lager war der Erbrichterei-Gutshof (ein Viereckbau) mit einem großen Hoftor umfunktioniert worden. Jeder musste sich dort eine Schlafstelle im Hof, in der Scheune oder im Stall suchen. Vieh gab es ja keines mehr. Wir versuchten möglichst eng beieinander zu bleiben. Wir Mädchen mussten unter Bewachung der Miliz hinausmarschieren um Schützengräben zu schaufeln. Einige Frauen mussten unter Bewachung das Lager verlassen um in den leer stehenden Häusern nach Essbarem zu suchen.
. Es wurde viel Brot gebacken, das aus Kartoffeln und Mehl zusammengeknetet war. Es war ja nichts anderes mehr vorhandenen. Dieses Brot schimmelte nach kurzer Zeit und schmeckte danach. Das Lager wurde nach einigen Wochen aufgelöst. Ältere Leute die nicht mehr arbeiten konnten trieb man als erste Aussiedler zu Fuß aus der Heimat. In unserem Anwesen war ein Tscheche mit seiner Familie eingezogen, deshalb konnten wir nicht mehr auf unser Grundstück zurück. Herta und ich wurden von einem Tschen mitgenommen und kamen in einen Ort in der Gegend von Olmütz der Paterin hieß. Er gab unsere Mutter noch seine Adresse. Traudl Othmar und Mutter kamen auf einen Gutshof namens Bittov (Bittau) .Wo unser Vater geblieben war wußte niemand von uns. Wir waren Jetzt in einer rein tschechischen Gegend und konnten die Sprache nicht. Die Getreideernte war inzwischen abgeschlossen. Es wurde mit den Klauben der Kartoffeln begonnen. Der Herbst in diesem Jahr wa rein schöner Altweibersommer. Die Zuckerrübenernte stand ebenfalls bevor. Da die nahe gelegene Zuckerrübenfabrik zur Hochsaison Tag und Nacht durchlief und vertragliche Vereinbarungen bestanden, mussten die Zuckerrüben zu einer bestimmten Zeit geliefert werden. Die Liefervereinbarungen waren auf jeden Fall einzuhalten, da mussten wir fest arbeiten.
Zu der Frau bei der wir arbeiteten sagten wir Pany und zu Ihrem Mann Pan. Sie behandelten uns gut, bei ihnen war niemals etwas wie „Völkerhass" zu spüren. Natürlich waren sie wegen der Arbeit auch auf uns angewiesen. Die tschechischen Arbeiter liefen alle weg, nahmen sich deutschen Besitztum.

XV
Eines Tages erhielt ich einen Brief von Mutter. Sie schrieb uns, dass jetzt bekannt sei, wo unser Vater hingebracht worden war. Er befand sich in Vitkowitz und musste dort in den Kohlegrubenarbeiten. Beim Mittagessen sagte Pany damals zu mir: „Aninko (sie riefen mich ,Aninko" und Herta „Lely"), was schreibt denn deine Mama?" Ich sagte: „Wir wissen jetzt wo unser Vater ist", und ich erzählte ihr was ich wusste. Beim Abendessen sagte der Pan, „Aninko" du warst so Fleisig bei der Rübenernte , ich habe in der Nähe von Ostrau -Vitkowitz zu tun , du darfst mitfahren und deinen Papa besuchen .Pany machte mir noch einen Kogelhupf . Zwei Tage später liefen wir morgens um 6 Uhr zum Bahnhof nach Morawitschan (ca, 5km). Mein Gugelhupf war in einem großen Vierecktuch eingebunden, das ich vorsichtig bei mir trug. Der Pan hatte eine große Aktenmappe bei sich. Er sagte mir, ich solle kein Wort sprechen. Wir stiegen in den Zug und fuhren bis mährisch Ostrau (Vitkovice).
Dort angekommen setzten wir unsere Fahrt in einer Straßenbahn fort, bekamen jedoch keinen Sitzplatz. Deshalb hielt ich mich an einer
senkrechten Haltestange fest. Als die Straßenbahn ruckartig eine große, scharfe Kurve fuhr kippte ich nach vorne über. Sofort sprangen zwei junge Tschechen auf, spuckten mir ins Gesicht, packten mich am Genick und stießen mich aus der fahrenden Straßenbahn. Ich fiel haarscharf neben einem Laternenmast auf die Straße. Kinn, Hände und Knie waren aufgeschlagen und bluteten stark. Die Tschechen hatten das ,N" gesehen, das alle Deutschen tragen mussten —wie die Juden den Stern.
Als ich mich langsam aufraffte und hoch krabbelte kam der Pan angelaufen. Er war an der nächstmöglichen Haltestelle ausgestiegen und zu mir zurück gelaufen. Er forderte mich auf, schnell aufzustehen, damit wir sofort verschwinden konnten. Wir liefen in eine nahe Häusereinfahrt um uns zu verstecken. Das Tuch, in dem der Gugelhupf eingewickelt war, band ich mir um den Hals, um mein blutendes Kinn zu verbinden. Die Strümpfe
zog ich aus und nahm sie fest in die Hände. Wir hatten ja kein Verbandsmaterial zur Hand.

XVI
Pan ging ganz schnell mit mir zu seiner Schwester, die hier wohnte. Sie versorgte meine Wunden mit Jod, verband mich richtig und sorgte dafür, dass ich mich hinlegte und etwas ausruhen konnte. An diesem Nachmittag wollten wir ja meinen Vater besuchen, doch mir taten alle Knochen weh und auch die Wunden schmerzten sehr. Trotz meiner vielen Schmerzen gingen wir nachmittags zur Grube, in der mein Vater arbeiten musste. Dort angekommen, meldete mich Pan als Besucher an. Darauf hin wurde ich in einem Raum geholt, wo ich mich ausziehen musste und nach Schmuggelware durchsucht wurde. Den mitgebrachten Gugelhupf musste ich bei der Kontrolle abgeben. Zwei Miliz-Soldaten kamen mit dem Maschinengewehr im Anschlag auf mich gerichtet. Dann führte man meinen Vater zu mir herein. Ich konnte noch geschockt und verängstigt von meinen Erlebnissen des Vormittages kein Wort sprechen. Ich schüttelte oder nickte nur mit dem Kopf oder zuckte mit den Achseln. Die Besuchszeit von 5 Minuten war schnell zu Ende. Ich war damals sehr froh, als dies alles vorbei war.
Es zog der November ins Land. Mein 18. Geburtstag stand vor der Tür. Pany machte mir Kolaee, ein Hefegebäck. Ich bekam auch noch ein Geburtstagsgeschenk, ein Hasenfell. Davon sollte ich mir Ruckvice (Handschuhe) nähen. Wie ich das anstellen sollte weiß ich bis heute nicht. Das Fell war knochenhart. Der Winter ging vorbei und eine neues Frühjahr zog ins Land. Wir begannen wieder mit den Feldarbeiten. Es erreichte uns ein Brief unserer Mutter. Sie schrieb uns, dass viele Menschen ausgesiedelt würden, oft ein bis zwei Personen einer Familie. Bewohner, die etwas weiter von der Grenze entfernt lebten, durften noch in Ihren Häusern bleiben. Mutter meinte, dass die Amerikaner ein Gesetz herausgegeben hätten, in dem stand, dass die Familien gemeinsam nur gemeinsam ausgesiedelt werden müßten. Unsere Mutter gab deshalb ein Gesuch ein und forderte uns Kinder und unseren Vater an.

XVII
Dieses Gesuch wurde Ende Mai 1946 genehmigt und wir mussten binnen 3 Tagen alle in Jägerndorf eintreffen. Eine Bescheinigung fürs Zugfahren bekamen wir. Im Lager, in dem wir untergebracht wurden, ist uns der gesamte Schmuck (Ohrringe, Halskettchen, Ringe und alles Andere) abgenommen worden. Wir wurden aufgefordert, uns auszuziehen. Es folgte eine genaue, sehr unangenehme Leibesvisitation, bei der festgestellt wurde, ob nicht irgendwo am Körper noch etwas versteckt worden war. Dann wurden wir in einen riesigen Raum (eine große Lagerhalle) gebracht. Man durfte 50 kg Gepäck mitnehmen. Woher sollten wir 50 kg Gepäck nehmen. In diesem Lager war ein riesiger Berg von Kleidung von anderen Aussiedlern aufgehäuft, die mehr als 50 kg Gepäck mitgenommen hatten. Wir kletterten auf diesen Kleiderhaufen und suchten nach einigermaßen schönen Sachen. Ob diese dann auch passten war eine ganz andere Frage. Diese Stücke wurden in einen Sack gepackt. Zwei Tage später marschierten wir durch die ganze Stadt Jägerndorf den Sack auf dem Rücken in Richtung Bahnhof. Dort wurden wir abgezählt und in Viehwaggons verladen. 16 Personen waren in einem Waggon untergebracht. In der Mitte stand eine Schüssel mit Chlorkalk gefüllt auf einem rostigen Behälter. Außerdem stand dort eine große Kerze, die nur im Notfall angezündet werden durfte. Ein großer Blecheimer war die Toilette. Falls der Waggon von uns geöffnet würde ,wäre sofort geschossen worden. Der Zug stand oft Stunden lang auf Bahnhöfen. Wir wollten natürlich wissen, wo wir waren. Deshalb halfen wir Jüngern einander, um durch die Luftschlitze, die unter dem Dach des Waggons waren, irgend etwas ausmachen zu können. Auf einem Güterbahnhof in Prag durften wir die Türen öffnen und mussten unsere Toiletten-Eimer leeren. Dann krochen wir wieder zurück in unsere Waggons. Man gab uns schwarzen Kaffee zu Trinken und ein mal am Tag etwas Suppe zum Essen. Einen Löffel und einen Blechteller besaßen wir ja noch aus dem Lager.

XVIII
Die beiden Sachen waren jetzt auch nur noch unser ganzer Besitz. Nach dem Essen legten wir uns wieder auf den Waggon-Boden dabei waren die 50 kg Gepäck unser Kopfkissen. Die Fahrt nach Deutschland dauerte 3 Tage bis wir endlich in Augsburg ankamen. Dort wurden wir in der „Georgenschule" für 2 Tage einquartiert. Dort wurde uns mitgeteilt, dass wir weiter in eine ländliche Gegend gebracht würden. Unser Ziel hieß Krumbach/Schwaben .Wir kamen am Bahnhof in Krumbach an, marschierten am Postgebäude vorbei bis zur Firma Knoll. Hinter dem Fabrikgebäude standen damals Baracken, in denen ehemals russische Kriegsgefangene untergebracht waren. Das Seegras lag noch meterhoch und ganz zermürbt in diesen Baracken. Es war der 16. Juni 1946 es herrschte eine Schafskälte und es regnete in Strömen. Es blieb uns also gar nichts anderes übrig als in diesem ekligen Seegras unter zu kriechen. Wenn man sich bewegen wollte, staubte dieses Gras dermaßen, dass der ganze Raum wie im Nebel lag. Deshalb lagen wir möglichst still. Unser unheimlich großer Hunger ließ uns jedoch nicht zum Schlafen kommen. Es gab lediglich Kartoffelsuppe, so wie es sie damals gab, mehr Wasser als Kartoffeln und ohne Geschmack. Wir Mädchen beschlossen deshalb schweren Herzens betteln zu gehen. Ich versuchte mein Glück damals in einigen Lebensmittelgeschäften in Krumbach. Ich bekam immer nur die eine Antwort :"Wenn du keine Marken hast, bekommst du auch nichts!" Ich versuchte mein Glück auch bei der damaligen Metzgerei Koch ( jetzt Gasthaus Stern) und wartete bis die gesamte Kundschaft bedient war. Dann fragte ich Frau Koch nach ein paar Abfällen aus Ihrer Metzgerei. Frau Koch wollte auch Marken von mir, die ich aber nicht hatte. Ich erzählte ihr, dass wir 5 Kinder am vorherigen Tag, nach einer 5-tägigen Odyssee, in Krumbach angekommen waren und die ganze Nacht vor Hunger nicht schlafen konnten. Darauf hin ging Frau Koch aus dem Laden und kam bald mit einem großen Topf wieder zurück.

XIX
Sie gab mir diesen Topf und meinte, der Inhalt „Haferflocken in Milch gekocht" werde uns etwas weiterhelfen und den größten Hunger etwas stillen. Ich versprach ihr, den Topf nach dem wir gegessen hätten, sofort zurück zu bringen. Für mich war es schwierig diesen großen Topf, nur mit meinen Händen, den weiten Weg bis zur Knoll-Baracke zu transportieren. Endlich kam ich bei unserer Baracke an. Alle anderen sahen uns ganz neidisch zu, wie unsere ganze Familie den Topf leer löffelte. Nachdem wir unseren großen Hunger gestillt hatten, schliefen wir gleich ein. Am nächsten Tag trug ich diesen Topf sofort zurück und bedankte mich nochmals ganz ,ganzherzlich. +++

Verfast und niedergeschrieben im September 2008 Annemarie Dreher